Seit 1970 wurden im deutschsprachigen Raum 772 Tatorte gesendet, morgen abend läuft der 773te. Ich habe im Laufe der letzten zehn Jahre alle diese Tatorte gesehen. Sie sind ein Teil deutscher Geschichte, die mir vor der sogenannten Wende 1989 fremd war. Aus heutiger Sicht bieten die Tatorte interessante Aspekte und bieten die Möglichkeit, die Veränderung von Blickwinkeln und der gesamten Gesellschaft nachzuvollziehen.
Ich picke mal ein paar Themen heraus:
– Ausländer
In alten Tatorten gab es Ausländer nur als Gastarbeiter, als störendes Beiwerk oder Pauschaltäter. Türken, Italiener, Spanier, Jugoslawen, Griechen und Spanier wurden dargestellt, daß einem heutzutage schlecht werden kann. Und tauchte mal ein Nordafrikaner auf, dann war, wie beim Holländer klar, daß es nur um Drogen gehen kann. Ab und zu tauchte auch mal ein Neger auf, der aber entweder viel Gold oder einen Diplomatenpaß hatte oder grundsätzlich fälschlicherweise schuldig gesprochen wurde.
Seit den späten 1990ern ist das Thema glücklicherweise einer Normalisierung gewichen. Nun ist man mal korrekt oder auch nicht, sind Ausländer gut und böse und auch in den Ermittlerteams arbeiten Leute aus der Türkei. Ex-Jugoslawien und Rußland auf Augenhöhe mit.
– Frauen
Frauen waren in den 1970ern Jahren nur schmückendes Beiwerk oder Opfer. Erst in den späten 1970ern gab es auch starke Frauen, sogar erste weibliche Kommissare (Buchmüller). Heute von der Sonderstellung der Frau im Tatort zu reden, wäre lächerlich. Ausnahme: in Österreich begegnete man auch in relativ aktuellen Tatorten Polizistinnen mit unverhohlener Abneigung, in der Schweiz läßt man das Thema geschickt komplett außen vor.
– Drogen und Genußmittel
Früher: Drogen nur Schwerstkriminelle, Alkohol alle ständig, Rauchen dito, Mitte der 1990ern näherte sich die Sichtweise der Realität an, heutzutage bemüht man sich nach amerikanischem Vorbild(?), Bier und Zigarette auszublenden, der Gebrauch aller illegalen Drogen wird hingegen in allen Details als Alltag geschildert.
– Team
Früher ermittelte ein mehr oder weniger schrulliger Kommissar mit ein paar nichtssagenden Statisten stur bis zur Festname, heute treten auch zweite und dritte Reihe (Gerichtsmediziner, Forensiker) auf den Plan.
– Freizügigkeit
Sehr viele Tatorte sind sehr offenherzig. Gefühlt sieht man in jedem zweiten Tatort nackte Tatsachen, teilweise auch episch lange und nicht etwa nur weibliche Oberweite.
Manche Sexszene hätte man im alten Ostblock auch als Porno verkaufen können und auch sonst gibt es wenige Niederungen, in die sich ein Tatort nicht vorgewagt hätte.
Vor allem fällt die Realistik in der Pathologie auf; bisheriger Höhepunkt: die Obduktion eines Säuglings.
– Technik
Der wohl interessanteste Aspekt. Schaut man die Tatorte chronologisch, fällt der technische Fortschritt besonders im Auge. Mancher Fall von 197x ließe sich mit einem gängigen Mobiltelefon in Minuten lösen, manche Handlung ist in unserer Handy- und Internetzeit mittlerweile sogar unvorstellbar.
Und man erkennt auch den Fortschritt an Bild und Ton, so wird erst 4:3 gesendet, dann kommen Videotextuntertitel dazu, es folgen Stereo- bzw. Zweikanalton und dann 16:9 und Dolby Surround. Sicher strahlt man heute den Tatort auch in HD aus, doch soweit bin ich noch nicht.
Glücklicherweise verhindert heutzutage die Bürokratie und Inkompetenz des Apparats die effiziente Anwendung moderner Technik, sonst hätte die Mordkommission immer 100% Aufklärungsquote.
Sicher kann man zum Thema noch viele Seiten füllen, aber ich möchte den Rahmen des Blogeintrages nicht sprengen.
Jeder, der sich für jüngere deutsche Zeitgeschichte interessiert, solle sich ruhig mal ein, zwei olle Tatorte anschauen.
Abgesehen davon spielte im Tatort quasi auch jeder semiprominente aus Funk, Sport und Fernsehen mit oder führte Regie, ich nenne nur mal die Namen Samuel Fuller, Rolf Hoppe, Udo Lindenberg, Nena, Sandra, Wolfgang Mischnick, Walter Sedlmeir, Curd Jürgens, Wolfgang Petersen, Wolfgang Staudte, Berti Vogts, Robert Vaughn, Bela B. und natürlich Nastasja Kinski heraus, und habe noch hundert andere bekannte Namen vergessen.
Weitere Infos zum Thema findet man in der Wikipedia und im Tatort-Fundus.
Noch ein Ergänzung: kürzlich hat es die ARD geschafft, und mit der Veröffentlichung von Tatorten auf DVD begonnen. An sich ja nett, aber: eine fette DVD-Box enthält genau vier DVDs mit je einer Folge. Dafür werden stolze 40 EUR verlangt. Das bedeutete ja, von der Platzverschwendung abgesehen, daß man für alle Tatorte, so sie denn überhaupt alle erscheinen, 7.720 auf den Tisch legen müßte?
Ich hätte da eher an 500 EUR gedacht und eine gescheit gestaltete Festplatte mit allen Folgen darauf.
Und zum Schluß noch meine „Lieblingskommissare“ ohne Rangfolge:
– Manfred Krug als Stoever
– Gustl Bayrhammer als Melchior Veigl
– Jan-Josef Liefers als Gerichtsmediziner Prof. Boerne
– Lutz Reichert als Meier II
– Andrea Sawatzki als Charlotte Sänger
– Michael Janisch als Michael Fichtl
– Maria Furtwängler als Charlotte Lindholm
Einen Lieblingstatort habe ich nicht, denn man muß sie in ihrer Zeit betrachten und auch im Kontext. Überdurchschnittlich gute Krimis lieferte eigentlich immer der Bayerische Rundfunk ab, aber auch der Saarländische Rundfunk leistet Erstaunliches.
Eine Krimiserie die fast so alt ist, wie ich selbst, mein Glückwunsch. Allerdings finde ich, daß weniger mehr wäre und man derzeit zu viel produziere. Klasse statt Masse wäre mir hier lieber.
Mrz 202010
Deine Analyse ist in vielen Punkten sicher zutreffend – allerdingsmüssen ein paar Anmerkungen sein:
1. Das Thema Obduktion ist zwar in den Vordergrund gerückt, allerdings mittnichten realistisch, wie ich durch Michael Tsokos „Dem Tod auf der Spur“ gelernt habe.
2. Weibliche Kommissare sind überrepräsentiert. Es gibt im Fernsehen deutlich mehr als in der Polizeistatistik.
3. Vergiss den Polizeiruf 110 nicht – der ist manchmal sogar der bessere Tatort (siehe Team München)
Gruß, Bodo