Selene III
Welch Phänomen! Im Jahr 2022 gibt es einen ambitionierten Mann, der sich nicht dem Zeitgeist unterwirft, der ganz frei seinem Hobby frönt und dabei kommt überraschend Gutes heraus, welches zudem auch noch SEHR interessant ist.
Im Film „Eine Leiche zum Dessert“ (Original: Murder by Death(1976)) sagt Gastgeber Lionel Twain zu der versammelten Schar der Superdetektive den schönen Satz: „Meine Intelligenz möchte sich mit ihrer gemessen sehen.“
An diesen Satz dachte ich manchmal beim Lesen von „Selene“. Und er tat seine Wirkung. Als schon reifer Vielleser passiert es mir nicht oft, daß ich zum Lexikon greife, um mich einzusortieren. Bei diesem Buch tat ich es öfter und mit Genuß und Erkenntnisgewinn, ein Dank dafür an den Autor.
Eine schier unüberschaubare Vielzahl von Themenbereichen werden in „Selene“ tangiert, angesprochen, manchmal vertieft. Dabei gelingt Chris Pfeiler der Spagat, Themen als selbstverständlich vorauszusetzen und so zu beschreiben, daß man sich als Leser mitgenommen fühlt und nicht ausgegrenzt.
Beispielsweise beschränkt sich meine Erfahrung mit japanischen Comics nur auf die vor 40 Jahren im ZDF ausgestrahlten Fernsehserien Heidi, Sindbad, Captain Future, Wicki, Biene Maja usw. Ich verbinde also nur ewig gleich gezeichnete Zeichentrickfiguren mit komischen Augen und schreienden Mündern, bei denen man das rosa Zäpfchen sieht, damit. Dabei weiß ich, daß es eine ganze Welt voll Mangas gibt, die mir völlig fremd ist. Dennoch erschließen sich mir die Referenzen auf japanische Comics durchaus.
Und so geht es mir bei vielen mir unvertrauten Themen, wie frühe Computerspiele, manche Fernsehserie,…
Dieses wunderbare Eintauchen in unbekannte Welten, das Spiel mit Versatzstücken des (westlichen) Kulturwissens, stark geprägt durch Funk und Fernsehen und dem Impakt vor allem des 20. Jahrhunderts mit Fokus auf die 70er und 80er Jahre, das ist nicht neu. Die Zeichentrickserie „The Simpsons (1989 – 1998)“ popularisierte diesen Stil. Von diesen frühen Simpsons ist der Autor merklich inspiriert, ja vielleicht möchte er mit seinem Buch an die alte Qualität der Serie anknüpfen, nachdem diese ab Staffel 10 endgültig vor die Hunde ging und echte Fans sich mit Grauen von ihr abwendeten. (Ich sehe gerade, daß die Zombie-Simpsons immer noch ausgestrahlt werden, mittlerweile in der 33. Staffel).
Zur Handlung möchte ich nicht zuviel verraten. Bei den beiden Protagonisten wird jetzt öfter der mittlerweile reifere Rick in den Fokus gerückt, auf der anderen Seite die – erzwungene – menschliche Seite Selenes herausgestellt. Schmerzlich anrührend ist die für beide Seiten unbefriedigende Begegnung mit ihrer Mutter. Das Fehlen der übernatürlichen Kräfte tut der Geschichte durchaus gut, zumal am Schluß deren Wiedererlangung um so effektiver ist.
Veränderung, Reife, aber auch Verfall, unwiederbringliches Verschwinden (durch Sichtbarwerden) zieht sich durch das Buch, besonders gut herausgearbeitet an Xanadu, dem unsicher gewordenen Rückzugsort von Selene und Rick.
Immer wieder fasziniert mich die Reflexion auf Götter, die Zeit und Schuld und Sühne. Denn an diesem Thema haben sich ja schon in den Jahrtausenden unzählige Menschen abgearbeitet, so daß man denkt, dort nichts Neues mehr entdecken zu können oder nur eingefahrene Gleise nebst aufgehängter Moral vermutet.
Chris Pfeiler schafft für mich das Kunststück, Physik, Mythos, Philosophie, verschiedene Religionen, Geschichte in einen Denkhorizont einzubinden, der mir genehm ist, der mir weiterhilft und der große Denkanstöße gibt.
Beispielsweise dienen das Zweistromland, das darin gelegene Uruk und sein berühmtester König Gilgamesch als Schnittstelle zwischen der Menschheit und den verschiedenen Göttinnen, bei denen man am Ende nicht einmal weiß, wer gut oder böse ist, denn absolute Macht korrumpiert absolut und gut gemeint ist nicht gut gemacht und Zeit ist durchaus sehr relativ.
So wird die Gestalt der Inanna deutlich ausgebaut und meine Meinung über sie habe ich beim Lesen mehrfach revidiert. Und schauen wir einmal, wie sich die dunkle Göttin „Jez“ entwickelt.
Es gibt das wunderschöne Lied „Am Fenster“ der Gruppe City. Einer der Gründe, warum dieses Stück von jung und alt, von Ost und West seit Jahrzehnten ununterbrochen geliebt wird, ist der Text, den die Schriftstellerin Hildegard Maria Rauchfuß verfaßte. Denn dieser Text ist vor allem lyrisch. Er stiftet die eigene Phantasie an, spazieren zu gehen, er hat keine klare, eindeutige Botschaft, er ist mysteriös…
Genau diese Wirkung entfaltet bei mir der dritte Band Christian Pfeilers „Selene – Herbstzeitlose“. Und ich kann mich mit Sicherheit auf einen vierten Band freuen, denn es gibt einen schönen Cliffhanger.